Der Besuch

Anxious

Langsam bewegt er sich. Vorsichtig setzt er seine Schritte. Der enge Waldweg ist durchsetzt mit dicken Baumwurzeln. Doch es liegt mittlerweile in seiner Natur, auch die gut ausgebauten Wege nur ganz behutsam zu betreten. Man könnte umknicken, gar stolpern. Bei seinem ‚Glück‘ wird er sich wahrscheinlich gleich beide Beine brechen. Gedankenverloren blickt er in die Baumkronen.

Was für eine Zeit durchlebt er gerade. Am liebsten würde er keinen einzigen Schritt mehr weitergehen und einfach hier in dieser herrlichen Stille und Geborgenheit bleiben. Keine Menschen in der Nähe, mit denen er sich vergleichen muss. Das hat er sich so angewöhnt.

So selbstbewusst wirken die anderen. So bestimmt und entscheidungsfreudig, als ob es das Leichteste auf der Welt wäre. Er hat morgens schon Probleme, ob er nun ein Vollkornbrot oder ein Toast zu sich nimmt. Oder am besten lieber gar nichts, bei seinen Gewichtsproblemen. Die anderen, sie sehen so gut aus. Kaum Falten, meist schlanke Figuren in seinem Bekanntenkreis. Freunde hat er nicht. Trotz reiferen Alters wirken sie jung und dynamisch. Er fühlt sich wie ein alter Mann. Dabei ist er, wie man es so schön nennt, in den besten Jahren. Der Verstand sagt ihm schon, dass die anderen sicher auch ihre Probleme haben, doch ihm sieht man sie an, da ist er ganz sicher, ihnen überhaupt nicht.

Mit leiser Stimme summt er eine Melodie, die ihn sein Leben lang begleitet hat. Seine Stimme ist eingerostet, findet er. Gibt es eigentlich noch irgendetwas, was er an sich mag? Sicher, er ist empfindsam und müht sich, anderen behilflich zu sein, ob nun im Job oder privat. Aber das ist ja auch selbstverständlich. Er macht es gerne. Das ist nicht der Erwähnung wert.

Er sieht an sich herunter. Die Kleidung hat auch schon bessere Tage gesehen. Die Sohlen der Schuhe abgelaufen, der Saum der Jeans zerschlissen.

Es werden auch wieder bessere Tage kommen. Tage, an denen er wieder aufrecht gehen kann. An denen die Sorgen seine Schultern nicht mehr herunterzwingen. So darf es nicht weitergehen. Morgen wird er sich neu einkleiden. Das soll sich auch positiv auf das Selbstbewusstsein auswirken, hat er irgendwo gelesen. Seine Bekannten werden ihn mit anderen Augen betrachten. Er malt sich aus, wie er ins Büro geht, sicheren Schrittes, hocherhobenen Hauptes. Diese Haltung, die er bei anderen so beneidet, dieser „Ich kann alles erreichen Gang“.

Allein in diesem Moment, in dem er nur daran denkt, geht es ihm schon viel besser. Er fühlt sich leichter. Ballast fällt ab. Seine Schritte werden schneller.

Er sieht sein Auto nahe der Straße stehen, dreckig ist es. Ungepflegt, genau wie er. Ein Nullachtfünfzehn Auto, genau wie er ein Nullachtfünfzehn Mann ist. Da ist es wieder, dieses Gefühl der Minderwertigkeit, Unwichtigkeit, Nutzlosigkeit. Nein, er wird es nie schaffen, so aufzutreten, wie andere. Er hat einfach nicht das Zeug dazu. Niedergeschlagen steigt er in sein Auto ein. Beim dritten Startversuch jault der Motor auf. Leise knirschen die Reifen auf dem schmalen Weg.

Zuhause angekommen, legt er eine Platte auf. Er liebt diese altmodischen Schallplatten und schenkt sich ein Glas Wein ein. Die Flasche ist auch schon wieder leer.

Das Telefon klingelt. Nein, er will jetzt nicht rangehen. Aber vielleicht ist es ja etwas Wichtiges? Eine fröhliche Frauenstimme fragt: „Wie geht es dir? Warum hast du dich denn nicht mal bei mir gemeldet? Ich hätte heute gerne den Tag mit dir verbracht.“ Mit mir?, wundert er sich. „Ich hatte viel zu tun“, murmelt er. Lügen kann er auch nicht gerade gut, sicher merkt sie es sofort. Vor zwei Wochen tranken sie in der Mittagspause einen Kaffee und gingen im Park spazieren. Es war ein wunderschönes Erlebnis für ihn.

„Darf ich bei dir vorbeikommen?“, fragt sie sanft. Tausende Gedanken stürzen auf ihn ein. Hierher, in seine verkommene Wohnung? Es ist unaufgeräumt, wie immer. Er bekommt so selten Besuch, warum soll er sie in Ordnung halten. Er denkt an seinen Spaziergang und seine guten Vorsätze. Sollte er es wagen? Was kann passieren? Sie dreht sich einfach um, wenn sie meine Wohnung sieht, ihr fällt sicher ein wichtiger Termin ein.

Eine innere Stimme rührt sich in ihm. Versuch es doch einfach mal, haucht sie. Er hört sich sagen: „Ja, warum nicht?“ und erschrickt fürchterlich. Das hat er doch nicht gesagt! „Schön, ich bin gleich bei dir“, antwortet sie. „Ich bringe eine gute Flasche Wein mit“. Sie war noch nie bei ihm, er kennt sie kaum. Aber lange schon beobachtet er sie. Ihren leichten Gang, ihre fröhliche, unbeschwerte Art. Sie sieht sehr attraktiv aus. Er hätte nie gewagt, sich mit ihr zu verabreden. Seine Telefonnummer gab er ihr, weil es vor einiger Zeit Probleme im Büro gab. Dass sie ihn auch privat anrufen würde, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er legt den Hörer auf und in Windeseile beginnt er, wenigstens das Wohnzimmer halbwegs freizuschaufeln. Er zittert am ganzen Körper, stellt sich vor, dass sie gleich vor ihm steht. Bevor er sich Gedanken darüber machen kann, klingelt es. „Da bin ich“, sagt sie und lächelt ihn strahlend an. „Schön“, mehr kommt ihm nicht über die Lippen. Sie geht ins Wohnzimmer, fragt: „Wo ist der Öffner?“ Sie ist so unkompliziert. Merkwürdigerweise fühlt er sich plötzlich sehr wohl. Sie scherzt und erzählt von einem Missgeschick, das sie heute erlebt hatte.

Seine Unsicherheit verfliegt. Er scherzt mit ihr. Er findet die richtigen Worte. Ihm kommt es so vor, als ob er plötzlich gewachsen sei. Verschwunden diese kleinlaute Haltung, verschwunden die Unsicherheit. Als ob er ein ganz anderer Mensch ist.

Wie zufällig berührt er sie, während er mit ihr redet. Liebevoll lächelt er sie an. Sie prosten sich zu und sehen sich in die Augen. Mag sie ihn etwa?

Ihre dunklen Augen sehen ihn klar und offen an. Schweigen. Aber es ist ein angenehmes Schweigen, wie eine Art Zustimmung. Keinen Moment fühlt er sich unwohl, seit sie bei ihm ist. „Ich freue mich, bei dir zu sein. Es ist gemütlich hier bei dir“. Gerade will er widersprechen, da legt sie ihre Hand auf seine. „Das habe ich mir so lange gewünscht. Ich habe heute meinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um dich anzurufen“, gesteht sie ihm. Das macht ihn nun vollends sprachlos. Sie und Mut zusammennehmen? Diese selbstbewusste Frau? „Ich mag dich nämlich sehr“. Er blickt sie forschend an. Sie meint, was sie sagt. Sie meint es wirklich ehrlich. Zärtlich lehnt sie sich an ihn. „Ich mag dich auch sehr“, stammelt er unbeholfen und legt seinen Arm um ihre Schultern.

„Guten Morgen allerseits“, tönt er in das Großraumbüro. „Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr?“ Beschwingten Schrittes holt er sich einen Kaffee, geht an seinen Schreibtisch und lächelt glücklich.

© Sabine Koss

 

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3 Kommentare

  1. Marion Bock

    Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Total aus dem Leben gegriffen, so absolut nachvollziehbar, so natürlich und mit einem Happyend. Die Figuren finde ich sehr präzise beschrieben, mit wenigen sehr aussagefähigen Charakterisierungen auf den Punkt gebracht, was die beiden Menschen ausmacht, um sie sich vorstellen zu können und dies alles ohne zu langweilen. Eine schöne runde Geschichte, liebe Sabine.

  2. Sabine Adameit

    Super! So soll das sein 🙂

  3. Ilona

    Mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen,ich war quasi förmlich mit dabei

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