Die langen Tage und Nächte voller Angst tragen ihre Spuren. Kein Tag vergeht, an dem sie sich nicht beobachtet fühlt. Schon beim Aufstehen morgens hat sie so ein ungutes Gefühl, als ob gerade noch jemand an ihrem Bett stand. Sie geht zur Tür und überprüft die Schlösser – alles verriegelt. Auch die Terrassentür ist verschlossen. Auf dem Weg zum Bäcker, wieder dieses Gefühl. Irgendjemand schleicht doch hinter ihr her. Oder ist sie nicht mehr ganz klar im Kopf? Droht sie verrückt zu werden? Sie ist zu viel alleine. Da kann man schon komisch werden. Auch beim Joggen: hier ein Geräusch, dort eine nicht greifbare Gestalt. Sobald sie sich umdreht, ist sie verschwunden. Zuhause angekommen setzt sie sich an den Schreibtisch. Ihr Anrufbeantworter blinkt. Komisch, er stand doch sonst immer links vom Schreibtisch. Sie schaltet ihn an – hört ein leises Atmen. In ihrem großen Garten, schon wieder diese Gestalt. Sie kann nicht erkennen, ob es ein Mensch oder nur eine Vision ist. Auf dem Rasen liegt ein großer Strauß weißer Lilien… Also doch ein Mensch. Sie sollte sich eigentlich einen Hund anschaffen. Aber sie hat eine Hundeallergie. Vorsichtig betritt sie den Garten, ihre Blicke schweifen. Alles ist ruhig. Sie sollte zur Polizei gehen, aber die halten sie sicher für verrückt. Das Telefon klingelt, soll sie abnehmen? Die Neugier überwiegt. Wieder nur ein Atmen… Ihre Stimme versagt, sie kann nicht einmal „Hallo, wer ist denn da?“ sagen. Mit zittrigen Händen zündet sie sich eine Zigarette an. Sicher hat sich nur jemand verwählt. Nur nicht hysterisch werden. Sie geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Die Pads, wo sind denn die Pads? Eigentlich steht bei ihr immer alles an seinem Platz, sie ist sehr ordentlich. Sie findet sie im hintersten Küchenschrank. Das kann nicht sein, niemals hätte sie sie dort hingestellt. Ich muss mich beruhigen, denkt sie. Am besten nimmt sie nun doch lieber eine Tablette. Sie stehen immer im Badezimmerschrank. Standen… Sie sucht das ganze Bad ab – nichts. Sie sieht in den Mülleimer, da liegt die Schachtel, halbvoll.Sie ist verzweifelt. Sie hat keinen, den sie anrufen kann, keinen, mit dem sie reden könnte. Sie holt ihren alten Füllfederhalter und beginnt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Aber sie kommt nicht weit. In der Dämmerung sieht sie im Garten einen Lichtschein. Wieder überprüft sie alle Schlösser. Als sie sich umdreht, schließt sich langsam die Tür zum Wohnzimmer. Sie wird panisch. Sie nimmt das Telefon und wählt die 110. Eine nüchterne Stimme meldet sich. Kein Ton kommt über ihre Lippen. Sie legt auf. Sie holt sich ein Messer aus der Küche und betritt langsam das Wohnzimmer. „Da bist du ja, mein Schatz“. Sie zuckt zusammen. Zittert am ganzen Körper. „Du hast mich lange warten lassen“. Sie ist starr vor Schreck. Hinter ihr nähert sich die Stimme. „Es wird Zeit“. Ein Tuch legt sich sanft um ihren Hals. Sie ist unfähig, sich zu wehren. 

Eine Traube von Nachbarn steht vor ihrem Haus. Sie lebte so zurückgezogen, hieß es. Wir kannten sie eigentlich gar nicht. Sie grüßte zwar immer freundlich, aber Gespräche gab es nie. Ist es nicht schrecklich? Und sie war noch so jung…

© Sabine Koss

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