Der kalte Wind pfiff ihr um die Ohren. Einsam war der Strand. Bei der Kälte traut sich kaum jemand aus dem Haus. Sie liebt diese Stille. Nur das sanfte Schwappen der Wellen, das Zerren des Windes an ihrem Körper, dem sie nachgibt. Gedankenverloren lässt sie die vergangenen Erlebnisse passieren. Immer wieder schießen unangenehme Situationen hervor. Es ist so schwierig, zu vergessen, obwohl sie sie doch ganz gut gemeistert hat. Aber sie kosten sehr viel Kraft. Der Lebensakku wird ganz schön beansprucht, spürt sie. Ihre Stiefel spielen mit dem tiefen Sand. Sie liebt es, ganz nah an den Wellen spazierenzugehen. Ab und zu umspülen vorwitzige Wogen ihr Schuhwerk.
Auf Sylt war es, im Herbst. Kalt war es und die Brandung sehr stark. Übermütig und sorglos, wie sie früher war, sprang sie über die Wellen. Bis der Sog zu stark wurde und ihr die Beine wegzog. Sie lachte und rappelte sich langsam wieder hoch. Klitschnass und kalt war sie nun, aber es war ein wunderschönes Gefühl. Sie freute sich auf die warme Wohnung. Den Ofen, an dem sie ihre Kleidung trocknete. Sie sah aus dem Fenster und genoss den Blick auf das weite Meer. Hier war sie zuhause, hier war Heimat.
Heute ist sie nur zu Besuch am Meer. Wehmut und Traurigkeit übermannen sie. Sie starrt in die Wellen. Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Genau so kommt ihr auch ihr Leben vor. Mutig vorgeprescht, enttäuscht und entmutig, hat sie sich wieder zurückgezogen. Ein ewiger Kreislauf?
In der Ferne sieht sie eine Gestalt auf sich zukommen. Sie wendet sich ab. Sie möchte alleine sein. Alleine mit den Naturgewalten. Menschliche Nähe hat sie zu sehr enttäuscht. Wie unbedarft geht sie doch immer auf Menschen zu. Ohne Vorbehalte, ohne Vorurteile. Sie ist stolz darauf. Aber immer wieder wird sie eines Besseren belehrt. Und schon wieder geht sie zwei Schritte zurück. Es tut zu weh. Immer wenn sie zu viel Nähe zulässt, wird sie verletzt, ausgenutzt, betrogen. Das wird ihr nicht wieder passieren. Schließlich sind Fehler dazu da, um aus ihnen zu lernen. Mühsam hat sie sich die Mauer aufgebaut, wie ein Pril im Meer, der vom Watt getrennt, unerreichbar scheint. Hier fühlt sie sich sicher. Hier ist sie geschützt.
Die Gestalt nähert sich. Sie erkennt ihn. Seine Haare, zerzaust vom Wind. Der Kragen hochgeschlagen, ein dicker Schal um Hals und Kopf, so dass nur noch die Augen zu sehen sind. Seine klaren Augen. Dieser liebevolle Blick. Sie reißt sich aus ihren trüben Gedanken und geht ihm langsam entgegen. Wider besseren Wissens hat sie alle guten Vorsätze in den Wind geschrieben. Ließ alle Mauern fallen. Zeigte sich, wie sie wirklich ist. Mit ihren Fehlern, Unzulänglichkeiten und Schwächen. Nur ein Schritt trennt sie nun. Schweigend ergreift er ihre Hand. Zärtlich, verstehend, streichelt er sanft ihre Wange. Sie ist kalt. Zärtlich schmiegt sie sich an ihn.
Alles vergessen, alles verziehen. Nun ist alles gut. Nie wieder wird sich dieser Schmerz wiederholen, denn nun ist er da.

©Sabine Koss

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